Autismus (-Verdacht)

Hätte man mich noch vor einem Jahr (Stand: 2025) gefragt, ob ich in das Autismus-Spektrum falle, hätte ich vermutlich gelacht und gefragt, wie zur Hölle man auf diese Idee kommen würde. Well, times change; seit ich mich durch Autismus-Diagnosen innerhalb der Familie mit dem Thema beschäftige, bin ich mir sicher, dass ich ebenfalls im Spektrum bin, im Bereich des hochfunktionalen Autismus.

Asperger, Autismus, ADHS, AuDHS, Neurodiversität

Als ich mit meinem guten Freund Robert über meinen Verdacht redete, möglicherweise unter dem Asperger-Syndrom zu leiden, wurde ich als erstes korrigiert. Asperger-Autismus würde er aus Gründen als Begriff ablehnen. Nachdem ich eine Weile verzweifelt nach einem angemessenen alternativen Begriff suchte (“hochfunktionaler Autismus” hat schließlich das Rennen gemacht), wagte ich mich an die Recherche, wieso der Begriff eigentlich problematisch ist. Es gibt im Grunde zwei Antworten:

Zum einen war der Namensgeber, Hans Asperger, seinerzeit sowohl Kinderarzt als auch Nazi - während ersteres eher unproblematisch sein dürfte, ist letzteres gerade deswegen unerträglich, weil er Kinder, die er als “lebensunwert” ansah, töten ließ. Dass der Name eines solchen Menschen nicht durch den täglichen Gebrauch am Leben erhalten werden soll, ist aus meiner Sicht verständlich.

Zum anderen ist die Diagnose des Asperger-Autismus bzw. des Asperger-Syndroms auch aus dem DSM-5- und ICD-11-Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen zugunsten der übergreifenderen Autismus-Spektrums-Störung (ASS) verschwunden. Hintergrund ist hier weniger der problematische Hintergrund des Namensgebers, sondern die Tatsache, dass die unterschiedlichen Autismus-Diagnosen nicht klar genug voneinander abgrenzbar sind, um die verschiedenen Diagnosen für sich aufrecht erhalten zu können - man geht viel mehr inzwischen von einem fließenden Übergang von einem Ende des Spektrums zum anderen aus, bei dem die Symprome nur unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Damit ist der Asperger-Autsmus auch ganz offiziell keine valide Diagnose mehr.

Aus dem allgemeinen Sprachschatz wird der Begriff vermutlich erst mit der Zeit herausrotieren.

So viel zur Namensgebung. Da ich inzwischen bereits mit ADHS diagnostiziert bin, würde ich, sofern sich mein Verdacht erhärtet, unter den Kunstegriff “AuDHS”, also Autismus und ADHS, fallen. Durch die Überlappung einiger Symptome kann tatsächlich die klare Diagnose ziemlich schwierig werden, vor allem, weil die jeweiligen durch Autismus und ADHS bedingten Masking-Strategien die typischen Verhaltensweisen der beiden Störungen überdecken können. Bei mir beobachte ich das ziemlich stark, viele meiner autistischen Züge erlebe ich zwar, habe aber Strategien entwickelt, durch die sie im Alltag nicht oder nur sehr schwach sichtbar werden.

Für die Diagnostik und therapeutische Unterstützung bei einigen Aspekten meiner Symptome ist es sicherlich sinnvoll, noch zwischen Depressionen, ADHS und Autismus zu unterscheiden. Erstere werden mit Sicherheit durch die beiden anderen verstärkt oder möglicherweise überhaupt erst ausgelöst. Doch darüber hinaus bin ich ein großer Freund davon, mich einfach generell als “neurodivers” anzusehen. Das Spektrum ist ziemlich groß und ich fühle mich ganz wohl damit, nicht immer nachdenken zu müssen, ob Verhaltensweise x jetzt zum Spektrum der Depression, der ADHS oder der ASS gehört. Im Alltag ist diese Unterscheidung für mich irrelevant.

Autismus-Diagnose - und ich dachte, ADHS war schon der Endgegner!

Ich bin ein Mensch, der gerne etwas in der Hand hat, wenn es um Diagnosen geht. Sei es, um bei Fachärzten direkt nachweisen zu können, dass bereits eine Diagnose vorliegt, aber auch, um für mich selber Gewissheit zu haben. Ich hinterfrage mich selber und meine Sichtweisen sehr stark und weiß, dass mir bei vielen Gedanken auch eine Außensicht fehlt, die ggf. Wahrnehmungen zurechtrücken kann. Eine offizielle Diagnose ist so ein Blick von außen, eine Bestätigung, dass ich mir viele Dinge nicht einfach nur einbilde. Und die aktuellen Tests sind aus meiner Sicht aussagekräftig und umfangreich genug, um eine Verdachtsdiagnose sicher zu bestätigen oder zu widerlegen. Zwar kann aufgrund der Unschärfe der Definitionen wie auch bei ADHS nur eine Spektrums-Diagnose gestellt werden, aber mehr braucht man in der Regel auch nicht.

Also dachte ich mir, blauäugig wie ich bin, dass man ja eigentlich nur einen Facharzt finden muss, der die Diagnostik durchführt. Und tatsächlich gibt es Ärzte und Institutionen, die eine entsprechende Diagnostik vornehmen, wobei die Wartelisten gerade bei den großen Trägern wie der Charité erwartungsgemäß bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag gefüllt sind. Das kenne ich aus dem Familienumfeld, denn selbst für Spezialisten, die Autismus bei Kindern feststellen, sieht es nicht viel anders aus. Autismus bei Erwachsenen festzustellen ist noch um eine Größenordnung komplexer, denn das bereits angesprochene Masking erfordert deutlich mehr Aufwand, um die zugrundeliegende Störung sauber zu erkennen.

Gut, die großen Zentren fielen also weg, aber es musste doch auch niedergelassene Fachärzte geben, die weiterhelfen können. Und ja, die gibt es. Auf deren Webseiten wird mehr oder weniger ausführlich beschrieben, wie komplex eine Diagnose bei Erwachsenen sei und dass dafür mit einem erhöhten Aufwand gerechnet werden müsse. Verwandte und Freunde müssten interviewed werden, außerdem gebe es mehrere mehrstündige Tests, die durchgeführt und ausgewertet werden müssen. Und so kommt man schnell auf 10-15 Stunden, die veranschlagt werden. So weit, so gut, klingt doch erst einmal ganz gut. Sogar oft ohne große Wartezeiten. Aber: Die Krankenkassen haben für diese Diagnostik kein Abrechnungsmodell, sprich: Man zahlt die Diagnostik aus eigener Tasche. Die Ärzte rechnen nach einheitlichem Schlüssel ab, derzeit liegt der bei ca. 100€ pro Stunde. Also mal eben tausend bis anderthalbtausend Euro, die man erst einmal auf der hohen Kante haben muss, für eine Diagnostik, die ggf. auch ergibt, dass man nicht betroffen ist. Uff.

Der Wert einer entsprechenden Diagnose ist jedoch einer, der sich durchaus stark auswirken kann: Abhängig von der Beeinträchtigung durch den Autismus im täglichen Leben kann ein Schwerbehindertenausweis beantragt werden. Die Herausforderung ist weniger, einen Behinderungsgrad nachzuweisen (bereits die Diagnose einer entsprechenden Störung dürfte für einen Behinderungsgrad von 10-20 ausreichen), sondern zu begründen, wieso man einen entsprechend höheren Grad von 50 oder mehr geltend machen kann, der für einen Schwerbehindertenausweis notwendig ist. Hier geht es tatsächlich um reale Behinderungen, die durch die Störung im Alltag auftreten, die je nachdem, wie gut man gelernt hat, mit den Symptomen umzugehen, mal stärker und mal schwächer ausfallen kann.

Hat man jedoch Aussicht auf einen entsprechend hohen Grad der Behinderung im Schwerbehindertenausweis, könnte sich der Aufwand, diesen zu beantragen, durchaus lohnen. Zum einen kann man einen steuerlichen Nachteilsausgleich (effektiv eine Steuerermäßigung) geltend machen, die sich ganz real auf die Einkünfte auswirkt. Zudem kann man beim Arbeitgeber zusätzliche Urlaubstage geltend machen. Auch eine Kündigung seitens des Arbeitgebers wird um einiges erschwert. Zusätzlich gibt es bei einigen Einrichtungen wie Museen oder teilweise auf Konzerten und Festivals eine Ermäßigung für Menschen mit einem entsprechenden Ausweis, die jedoch nicht gesetzlich geregelt ist und immer im Ermessen des Veranstalters bzw. der Einrichtung liegt.

Das mag jetzt so klingen, als ginge es darum, sich Leistungen zu erschleichen. Doch sieh es einmal anders herum: Der Schwerbehindertenausweis wird nicht leichtfertig ausgestellt, einen entsprechenden Behinderungsgrad bekommt man ohne valide Begründung (fachärztlich bestätigt) nicht und dieser muss je nach zugrunde liegender Erkrankung auch regelmäßig re-evaluiert werden. Bei Autismus wird allerdings nicht davon ausgegangen, dass der Autismus jemals “geheilt” wird, daher ist ein entsprechender Antrag in diesem Fall unbefristet - entsprechend hart werden die Anträge allerdings auch geprüft.

Selbstdiagnose vs. offizielle Diagnose

Da ich für mich noch nicht genau genug erfasst habe, inwiefern tatsächlich ein begründeter Verdacht (okay, begründet ist er definitiv, aber in wiefern er auf genaueren Prüfungen standhält) auf hochfunktionalen Autismus besteht und in welchen Bereichen er mich auf welche Art wie stark beeinträchtigt, ist für mich der erste Schritt definitiv die Selbstdiagnose. Ich kenne mich, meine Gedankenmuster und Verhaltensweisen gut genug, um mich an den offiziellen Prüfkriterien entlang zu hangeln und zu bewerten, ob diese bei mir zutreffen. Und während so eine Selbstdiagnose mit Sicherheit einiges an Klarheit über den eigenen Zustand und Antworten auf viele Fragen bieten kann, hat sie natürlich bei Aspekten wie einem Schwerbehindertenausweis oder generell bei therapeutischen Maßnahmen so gut wie keinen Wert. Während ich mit der Selbstdiagnose “ich bin erkältet” noch problemlos zum Hausarzt gehen und ggf. eine AU bekommen kann, wird der Gang zum Psychologen mit der Aussage “ich habe Autismus, aber keine Diagnose” vermutlich eher ein mildes Lächeln oder einen Verweis auf entsprechende Diagnostik einbringen. Generell würde ich aber nicht sagen, dass die “Selbstdiagnose” sinnlos ist. Alleine das Wissen um die vielfältigen Ausprägungen des Autismus, den Kontakt zu anderen Menschen mit entsprechenden Symptomen (wenn man dann möchte) und einen Überblick über die Möglichkeiten, auch ohne offizielle Diagnose Unterstützung zu erhalten, ist Gold wert. Udn aus Erfahrung: Man fühlt sich weniger alleine und verstanden, wenn man einmal realisiert hat, dass es viele andere gibt, die denselben Weg beschreiten und ihr Wissen teilen.

Ausblick

Werde ich den Weg einer offiziellen Diagnostik gehen? Vermutlich ja. Das Geld, das ich dafür in die Hand nehmen muss ist gut investiert, gerade in Hinblick auf einen möglichen Behinderungsgrad. Ob die ADHS-Diagnose und die Depression zusätzlich berücksichtigt werden (und ggf. zu einer gesonderten Re-Evaluierungspflicht führen) muss dann auch geklärt werden. Hier wird jedoch noch einige Zeit vergehen, denn zum einen muss ich akute Beeinträchtigungen in meinem Leben erst einmal sauber erkennen und dokumentieren und dann auch einen Arzt finden, der diesen Weg mit mir gehen wird. In Anbetracht des nahenden Umzugs nach Norddeutschland werde ich das also vermutlich erst frühestens 2026 angehen und ggf. auch von den Erfahrungen aus dem familiären Umfeld profitieren können, die diesen Weg schon hinter sich haben, wenn auch im Kindesalter.