Gedanken und Erkenntnisse

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Arbeitstechnisches / Kommunikation

Ein Freund fragte mich kurz nach Veröffentlichung dieser Rubrik, ob ich es für eine gute Idee halte, derartige Informationen über mich öffentlich verfügbar zu machen. Auf Rückfrage erklärte er, ich mache mich dadurch zum einen angreifbar, zum anderen senke ich aber auch meinen Wert am Arbeitsmarkt bzw. gebe möglichen zukünftigen Arbeitgebern Informationen an die Hand, aufgrund derer sie mich nicht einstellen könnten.

Ansich sind das nachvollziehbare Gedanken. Natürlich könnte jemand Informationen, die ich hier über mich preisgebe, gegen mich verwenden. Theoretisch jedenfalls. Praktisch würde das vermutlich nur gelingen, wenn ich mit mir und meinem Zustand im Unreinen wäre. Bin ich allerdings nicht. :) Womit soll man mir schaden wollen? “Ich sag Deinem Arbeitgeber, dass Du krank bist”? Weiß der schon seit Jahren und unterstützt mich auf allen Ebenen. Meine Familie ebenso. Auch der Freundeskreis weiß Bescheid. Direkt angreifbar bin ich durch das Ganze auch nicht, sonst hätte ich vermutlich schon größte Schwierigkeiten gehabt, über das Ganze zu schreiben.

Und die Sache mit zukünftigen Arbeitgebern (die das hier potenziell auch lesen)? Das ist für mich die unkritischste bzw. einfachste Facette der Fragestellung. Ich handhabe das als automatisches Aussieben. Wenn ein potenzieller zukünftiger Arbeitgeber von meiner Krankheit erfährt und daraufhin kein Bewerbungsgespräch anbietet: So be it, das wäre tatsächlich auch kein Arbeitgeber, mit dem ich glücklich werden würde. Meinerseits verstehe ich meine Offenheit dem Thema gegenüber auch als Fairness denen gegenüber, die mit mir zusammenarbeiten wollen, denn so wissen sie, was auf sie zukommen würde. So haben beide Seiten die Chance, die Karten offen auf den Tisch zu legen und auf Augenhöhe zu verhandeln. Wenn dadurch direkt ein hoher Prozentsatz an Angeboten wegfallen würde, soll mir das recht sein. Gespräche in dieser Richtung wären Zeitverschwendung für beide Seiten - der verbleibende Rest ist der, für den ich mich interessiere.

Gründe für die Offenheit

Auch diese Frage höre ich von Zeit zu Zeit. Die Frage, wieso ich sowohl dem Arbeitgeber als auch der Öffentlichkeit gegenüber offen über ADHS und Depressionen rede. Auch da kommt oft das Argument “Angreifbarkeit” und “das geht doch keinen was an”.

Spätestens bei letzterem Punkt möchte ich widersprechen: mental issues gehen uns als Gesellschaft sehr wohl etwas an. Dass diese traditionell kleingeredet, ganz verschwiegen oder mit Alkohol seitens der Betroffenen im stillen Kämmerlein behoben werden ist Teil eines ganz massiven Problems. Wenn ich in bestimmten Kreisen herumfrage, mit denen ich viel zu tun habe, und quasi von jeder zweiten Person zu hören bekomme “Ja, mit Depressionen/Burnout hatte ich auch schon selber zu tun”, geht das jeden etwas an. Auch Menschen mit ADHS-Verdacht oder -Diagnosen, die erst im Erwachsenenalter zum Thema wurden, kenne ich unglaublich viele - vollkommen unabhängig von meiner eigenen Diagnose und den Kreisen, die das gerade zieht.

Genauer gesagt haben wir zwei Probleme, wegen denen ich mit der Thematik nicht stumm bleibe: Offenbar begünstigt unsere aktuelle Gesellschaft die Entstehung von psychischen Erkrankungen, außerdem werden diese meist totgeschwiegen (“Was sollen denn die anderen denken?!) und die Symptome werden im Zweifel nur noch schlimmer. Wir brauchen mehr Psychologen, die sich auskennen und auch kurz- und mittelfristige Termine anbieten können. Wir brauchen mehr Forschung zu den Ursachen. Wir brauchen mehr Sichtbarkeit, Rückhalt und Verständnis in der Bevölkerung und bei Arbeitgebern.

Gerade ADHS ist keine einseitige Medaille. Sicher, einige Aspekte des Lebens werden dadurch erschwert und wenn es durch den Überlast-Marathon zu weiteren Erkrankungen wie Depressionen kommt, ist das kaum etwas, aus dem man etwas Positives ziehen kann. Auf der anderen Seite erlebe ich ADHS-Betroffene als hyperkreativ, unglaublich leistungsfähig wenn man ihnen Aufgaben gibt, die sie interessieren und oft auch aufopfernd hilfsbereit. Wenn Gesellschaft und Arbeitgeber es schaffen, dieses Potenzial zu nutzen, ohne die negativen Aspekte zu befeuern, hätten alle etwas davon.

Von toten Linien und roten Fäden

Für die meisten Menschen sind Deadlines kein großes Problem. Man kümmert sich rechtzeitig und hat die Deadline im Blick, kann also dafür sorgen, dass Aufgaben rechtzeitig vorher beendet sind, um die zeitlichen Vorgaben einzuhalten.

Für mich sind Deadlines eine besondere Art von Endgegnern. Sie tauchen vollkommen überraschend auf und schlagen gnadenlos zu. Sicher, der eine oder andere wird jetzt vollkommen zu Recht anmerken, dass die Deadline ja vorher kommuniziert, angekündigt und bestimmt auch im Kalender vermerkt war. Kurioserweise ist mir das auch jederzeit bewusst, es ist nicht so, dass ich von der Deadline nichts weiß. Es ist nur so, dass sie halt in der Zukunft liegt, und die ist etwas, das mein Bewusstsein nicht als unaufhörlich auf mich zurollende Entität wahrnimmt.

Das Problem ist, dass viele ADHS-Betroffene ein fehlendes Gefühl für dieses Ding namens “Zeit” haben. Zeit ist schon für Physiker etwas, das man schwer beschreiben kann, denn es lässt sich zwar messen, aber nicht so richtig fassen. Zeit vergeht unterschiedlich schnell für Objekte, die sich unterschiedlich schnell bewegen - aber eigentlich nur aus der Perspektive des jeweils anderen bzw. eines Beobachters. Die Zeit als Komponente der Raumzeit ist ein relativ junges Konzept. Und dass Zeit einfach das Wahrnehmen des Bedürfnisses aller Dinge ist, sich in Richtung maximaler Entropie zu entwickeln… naja, das ist schon arg abstrakt. Da ist es schon praktisch, dass die meisten Menschen ein Gefühl für Zeit entwickelt haben und dass wir über Messgeräte verfügen, die den Ablauf der Zeit wenigstens im selben Bezugsrahmen halbwegs genau bestimmen können.

Irgendwann Anfang 2024 las ich das erste mal davon, dass meine Mitleidenden offenbar primär im “Jetzt” leben. Planung ist schwierig und auch Erinnerungen einem bestimmten Zeitpunkt zuzuordnen fällt schwer. Wie so oft erkannte ich mich in dieser Beschreibung auffällig gut wieder. Frag’ mich, was ich am Vorabend gegessen habe: Ich habe größte Schwierigkeiten, die Frage zuverlässig zu beantworten. Nicht, weil ich nicht wüsste, was ich so in letzter Zeit zu mir genommen habe, in der Regel merke ich mir das schon. Aber ich kann nicht zuordnen, ob es nun die Puffreis-Cracker waren, die Nudelsuppe oder der Müsliriegel. In den meisten Fällen kann ich so etwas nur anhand der Umstände rekonstruieren: Müsliriegel esse ich eher morgens oder mittags im Büro, Nudelsuppe mittags im Büro oder abends zu Hause, Reiscracker eher nur abends zu Hause. Und so habe ich schließlich eine ausreichend plausible Reihenfolge, dass ich behaupten kann: “Vermutlich Puffreis, glaube ich.”

In diesem Kontext fällt oft der Begriff “time blindness” und dieses Unvermögen, Zeit zuverlässig als konstant fließendes Konstrukt wahrzunehmen, sorgt nicht nur beim Erinnern der letzten Mahlzeiten für Ungemach. Auch Deadlines werden damit zum abstrakten Begriff, da sie erst dann als relevant wahrgenommen werden, wenn sie im “Jetzt” ankommen, oder zumindest beim Blick auf den Kalender der aktuellen Woche sichtbar werden. Bei mir persönlich ist es zudem so, dass ich, selbst wenn ich von einer Deadline weiß, die gerade noch mit vertretbarem Aufwand zu schaffen ist, dadurch in keinen Reaktionsmodus komme. Ich weiß, dass ich JETZT anfangen müsste, Dinge zu tun, aber der Impuls im Kopf, der darauf Taten folgen lassen sollte, liegt still in einer Ecke und döst vor sich hin. Warum das so ist? Vermutlich wie bei so vielen Dingen ein Dopaminmangel.

Das Spannende an Dopamin ist für mich, dass es, sobald ich eine Tätigkeit angefangen habe, offenbar in ausreichenden Mengen produziert wird. Habe ich diesen inneren Mt. Everest überwunden, der mich daran hindert, mit einer Tätigkeit zu beginnen, gehen mir die meisten Tätigkeiten leicht von der Hand. Oft verliere ich zwar nach einiger Zeit wieder die Konzentration oder das Interesse, aber das ist mit den richtigen Medikamenten ein lösbares Problem.

Der innere Mt. Everest ist für mich nur schwer zu bezwingen. Es gibt drei Möglichkeiten, wie ich es aktuell schaffe:

  1. Die Deadline steht vor der Tür und die Panik, es nicht zu schaffen, trägt mich über diesen Berg; meist folgt durchgehende Nachtarbeit, um es noch rechtzeitig zu schaffen.
  2. Medikamente helfen mir, den Berg etwas abzutragen, bevor ich ihn besteige. Klappt nicht immer, aber wenn, komme ich gut voran.
  3. Zeit. Gerade das Konstrukt, das mir solche Probleme macht, löst sie manchmal auch, denn irgendwann überkommt es mich doch und ich laufe einfach um den Berg herum. Bis das passiert können aber Wochen und Monate vergehen, daher ist das für Deadlines eher keine Lösung.

Bevor ich Medikamente bekam, vor meiner Diagnose, hatte ich keine Erklärung dafür, wieso ich nicht in der Lage war, Deadlines einzuplanen und zu berücksichtigen wie meine Kollegen. Wieso meine Hilfsmittel alle versagten und nur die kurz bestehende Deadline mich in einen Zustand brachte, der es mir mit massivem Stress und Schuldgefühlen erlaubte, die meisten Deadlines dennoch einzuhalten - zu Lasen meines Körpers und des seelischen Wohlbefindens. Das zieht sich wie eine rote Linie (man beachte meine geschickte Referenz auf den zweiten Teil der Headline) durch mein ganzes Leben, mal mehr, mal weniger intensiv. Heute weiß ich, dass das weder meine Schuld ist, noch dass ich mich dafür schämen muss. Ich habe zudem Werkzeuge in die Hand bekommen, mit denen ich diese Situation besser in den Griff bekomme.