Leben nach der Diagnose
Durch die Diagnose hat sich in meinem Leben einiges geändert. Nicht einmal so sehr durch die Medikamente, auch wenn mir diese aktuell erlauben, mich den ganzen Tag auf meine Arbeit zu konzentrieren und andere Dinge besser auszublenden. Primär haben bei mir jedoch viele Denkprozesse eingesetzt, die ohne die Diagnose nur schwer oder gar nicht möglich gewesen wären.
So ist es alleine schon eine Erleichterung, durch diese Diagnose viele Dinge zu akzeptieren, die mich ausmachen. Sprunghafte Gedanken, wieso ticke ich da so anders als die meisten anderen? ADHS! Wieso kann ich nicht lange in einer Position sitzen und muss mich ständig bewegen, weil ich sonst das Gefühl habe, zu platzen? ADHS! Wieso kann ich mich auf Dinge, die mir Spaß machen und für die ich brenne, konzentrieren, aber auf andere nicht? Wieso sträubt sich mein Gehirn gegen Ordnung und sich wiederholende monotone Prozesse? ADHS! Wieso schlafe ich bei Frontalbeschallung (Schulungen, Unterricht, Konferenzen) ein, wenn ich mich nicht irgendwie ablenken kann oder mich das Thema wirklich extrem interessiert? ADHS! Ich lerne, dass ich mich nicht selber für solche Dinge hassen muss. Dass ich mich nicht dafür schämen muss, dass ich so bin. Dass ich es auch nicht ändern kann, selbst wenn ich will. Dass ich nicht faul bin, weil ich Dinge nicht schaffe, die vom Ding her easy sind, bis ich eine Deadline auf mich zurollen sehe und der entstehende Stress mich erst handlungsfähig macht. Ich muss mir keine Vorwürfe machen, wenn ich an unpassenden Stellen über etwas lache, das jemand gar nicht als Witz gemeint hat. Und ich habe das Recht, meinem Bedürfnis nach Ruhe und Rückzug nachzugehen, auch wenn ich erst zehn Minuten unter Leuten bin, dadurch aber schon komplett überlastet bin.
Bei einigen Dingen (Konzentrationsfähigkeit, Ablenkungen in gewissem Rahmen ausblenden) helfen die Tabletten sehr. Und während sie bei vielen Menschen, die sie gerade im Studium illegal als Aufputsch- bzw. Konzentrationssteigerungsmittel nehmen eine sehr direkt wahrnehmbare Wirkung zu haben scheinen, merke ich davon tatsächlich eher wenig. Ich habe generell bei Medikamenten und Drogen, die in den Dopaminhaushalt eingreifen, beobachtet, dass diese kaum eine Wirkung bei mir haben. Auch in hohen Dosen beobachte ich bei mir nicht annähernd die Reaktion, die sie bei “neurotypischen” Personen haben. Generell beobachte ich bei mir selbst ein unglaublich geringes Suchtpotenzial. Ich habe in meinem Leben teils jahrelang stark geraucht, getrunken und gekifft. Und ich habe immer von einem Tag auf den anderen aufhören können, ohne dass ich großartige Entzugserscheinungen hatte. Am ehesten körperliche, gerade bei Alkohol, aber darüber hinaus hatte ich nie dieses Gefühl, wieder anfangen zu müssen oder den Entzug (sofern spürbar) abzubrechen. Es gab selten ein “ich brauche das jetzt”-Gefühl. Da ADHS nach aktueller Erkenntnis mit einen Dopaminmangel im Hirn einhergeht, verschiedene Drogen Dopaminausschüttung veranlassen und diese bei mir möglicherweise gestört ist, könnte dies ein möglicher Erklärungsansatz sein. Da es aber (Stand heute) schwierig bis unmöglich ist, einen Dopaminmangel direkt nachzuweisen, bleibt es eine Theorie, mit der ich aber ganz gut leben kann.
Kurioserweise könnte ein Dopaminmangel im Hirn, der indirekt meine Depressionen durch ADHS-typische Überlastung begünstigt hat, auch erklären, wieso ich die Antidepressiva nicht vertragen habe. Diese erhöhen auf verschiedenen Wegen auch die Konzentration anderer Neurotransmitter im Hirn, unter anderem Serotonin. Die Medikamente, die ich bekam, waren primär SSRIs, also selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Wenn nun mein Serotoninspiegel ganz normal war (auch hier: Ein Nachweis ist im lebenden Hirngewebe schwierig) reagiert der Körper auf eine Erhöhung der Pegel mit Vergiftungserscheinungen. Schwindel, Übelkeit, Schweißausbrüche, Gleichgewichtsstörungen, Koordinationsstörungen, Herzrasen und Tinnitus waren meine Reaktionen auf nahezu jedes Medikament, das den Serotoninspiegel beeinflusst hat, bei manchen ausgeprägter und bei manchen weniger, aber generell immer die selbe Reaktion. Die Ärzte taten es als “Das sind normale Gewöhnungserscheinungen während des Einschleichens der Medikamente, da müssen Sie durch” ab. Die Symptome waren allerdings auch nach Monaten noch dieselben, während die erhoffte Wirkung ausblieb.
Generell gesprochen bin ich unglaublich froh, den Weg der ADHS-Diagnostik beschritten zu haben und mit einer entsprechenden Diagnose herausgekommen zu sein. Auch wenn viele Frage noch offen sind und ich erst einmal lernen muss, mit den Implikationen bestmöglich zu leben, habe ich alleine durch das Wissen, was warum so ist, wie es ist, ein mächtiges Werkzeug an der Hand. Ein Werkzeug, mit dem ich Dinge verändern kann, die mich kaputt machen und mit dem ich andere Dinge ausfindig machen kann, die mich beeinflussen, die ich aber nicht ändern kann. So kann ich gezielt nach Wegen suchen, meine durch ADHS entstandenen Einschränkungen und ungesunden Verhaltensweisen Stück für Stück zu ändern.
ADHS wird mich mein Leben lang begleiten. Die Depressionen vielleicht auch. Aber beides kann ich soweit in den Griff bekommen, dass ich damit leben und die positiven Aspekte (zumindest bei ADHS) für mich nutzen kann.