Meine Sicht
Ein eher abwegiger Gedanke dürfte für viele sein, Schamanismus und die moderne Welt der Technik miteinander zu verbinden. Als mein guter Freund Logray das erste mal mit mir über dieses Konzept sprach, hatte ich direkt Bilder von russischen Kirchenvertretern im Kopf, die mit Weihrauch vor einem Serverschrank stehen und Weihwasser verspritzen. Doch nach und nach ergab das Ganze immer mehr Sinn. Eine Gedankensammlung.
Was ist eigentlich ein Schamane?
Ein Schamane, das ist ein “Wissender”. Der Begriff ansich leitet sich vom tungusischen šaman ab, der genau das bedeutet: Jemand, der weiß. Die Bezeichnung erfuhr zwar über die letzten Jahrhunderte einen Bedeutungswandel, aber der Kerngedanke dahinter blieb derselbe. Nur, dass die Bezeichnung Schamane heutzutage eben nicht mehr nur auf Vermittler zur Geistwelt in Sibirien und der Mongolei angewandt wird, sondern weltweit. Diese Verwässerung der Begriffe wird zu Recht kritisiert, denn dadurch werden verschiedene indigene Kulturen mit ihren ganz individuellen Geistwelten und Weltsichten in einen Topf geworfen, die im Grunde nichts miteinander zu tun haben. Dennoch verwende ich mangels eines besseren Begriffs hier den des Schamanismus, wenn Du einen passenderen Vorschlag hast lass es mich gerne wissen.
Grundsätzlich ist ein Schamane eine Person, die eine Brücke zwischen der jeweiligen Geist(er)welt und der real erlebten Welt herstellt. Mein erster Gedanke war, dass damit ein Schamane mehr oder weniger mit einem Priester gleichzusetzen wäre, doch der Vergleich hinkt. Ein Priester wird durch seine Kirche als solcher eingesetzt und legitimiert, während ein Schamane durch die jeweiligen Geister selbst berufen wird, mit denen er interagiert. Der Schamane ist im gegensatz zum Priester auch kein Stellvertreter derer, die er vertritt, er stellt eher einen direkten Vermittler dar. Auch steht der Schamane nicht im Lohn seiner Gemeinschaft oder Glaubensgesellschaft, im Gegensatz zu Priestern, die ihrer Berufung beruflich nachgehen. Generell ist ein Schamane auch nicht abhängig von einer Religion ansich, während ein Priester zu 100% seiner von ihm vertretenen Religion verpflichtet ist. Dass ein Schamane abseits der Religion unterwegs ist mag einige überraschen, ist jedoch ein integraler Bestandteil des Selbstverständnisses des Schamanen.
Bevor ich mich jetzt aber zu weit aus dem Fenster lehne und mir die Kritik von Ethnologen, Indigenen und Schamanen einfange, höre ich mit allgemeinen Begriffserklärungen auf und konzentriere mich auf den Begriff des Techno-Schamanen und erkläre, was ich darunter verstehe und welche Hintergründe ich annehme.
Techno-Schamanismus - bitte was?
Logray stellte mir zu Anfang des Gespräches die Frage, was meiner Meinung nach Ritualgegenständen, Fetischen, Artefakten, Geistern oder Göttern, aber auch zum Beispiel Politikern überhaupt ihre Macht verleiht. Die Frage kam unerwartet, doch für mich hatte ich sie schon in der Vergangenheit beantworter: Der Glaube daran, dass sie diese macht innehaben. Glaube ich daran, dass ein Gott Macht über mein Leben oder die Natur hat, hat er diese Macht auch. Glaube ich an die Heilfähigkeit eines Medikaments, hat es diese in gewissem Umfang auch - ein Querverweis zum Placebo-Effekt. Auch der Begriff der “Götter in weiß” ist nicht so weit hergeholt, denn man vertraut den damit bezeichneten Medizinern die Macht über Leben und Tod an. Und würden nicht Millionen Menschen an die Macht des Leibes Christi glauben, wäre die Hostie im Gottesdienst nur ein kaum befriedigender Partysnack.
Doch was hat das mit moderner Technik zu tun?
Gerade in den letzten Jahren beobachte ich eine starke Strömung hin zur Überhöhung von Technik, ganz konkret beim Thema Künstliche Intelligenz. Da wird dem Chatbot schon mal fast menschliche Intelligenz angedichtet, die Textgeneratoren wie ChatGPT & Co. “verstehen” angeblich, was man von ihnen möchte und Bildgeneratoren “träumen”. Doch steckt mehr dahinter als die reine Vermenschlichung, denn in der Wahrnehmung vieler schwingt auch etwas mystisches, transzendentes mit. Die KI löst in der Wahrnehmung vieler Menschen Probleme, die wir als Menschen nicht gelöst bekommen. Dass das mehr Wunschdenken als Realität ist: Geschenkt, aber: Wünsche sind ein sehr mächtiger Faktor, wenn es darum geht, Menschen und Dingen Macht zu geben. Und gerade KI unterscheidet sich damit in meiner Wahrnehmung so gut wie gar nicht mehr von beliebigen “traditionellen” Kultobjekten oder Geistwesen.
Doch wir brauchen gar nicht so weit in Richtung Künstliche Intelligenz oder andere ganz aktuelle Hypes zu schauen. Auch IT-Systemen ansich hängt für viele Menschen etwas mystisches an, sowie auch denen, die sie bedienen können. Wer schon einmal erlebt hat, wie ein vermeintlich defektes Stück Technik plötzlich wieder funktioniert, wenn ein “Techie” es in die Hand nimmt (oder nur den Raum betritt), weiß, wovon ich rede.
Ich würde also festhalten, dass modernen IT-Systemen häufig etwas anhängt, das als mystisch, unverständlich wahrgenommen wird. Diese Maschinen sind so komplex, dass ich selbst mich schwer tue, sie noch als streng deterministisch anzusehen. Wenn schon schwache Funkwellen oder kleinste Konstruktionsvariationen ausreichen, um das Verhalten der Komponenten zu beeinflussen, möchte ich eher von chaotischen Systemen sprechen, die zwar grundlegend beherrschbar sind, aber eben auch ein “Eigenleben” entwickeln können, das nicht nur für Laien schwer nachvollziehbar sein kann. Man könnte also genausogut behaupten, den Computern wohne ein Geist inne, der ab und zu eingreift. Einen allzu großen Unterschied zu Geistern, die andere Gegenstände, das Wetter, Tiere oder gar Menschen beseelen, sehe ich hier nicht.
Und sind nicht all die Nerds, die ihr Leben mehr mit Computern als mit Menschen verbringen, die zu verstehen scheinen, wie eine Maschine tickt, die mit einer fast zufälligen Geste oder einem bestimmten Knopfdruck Geräte wieder zum Laufen bekommen, auch auf gewisse Art Vermittler zwischen den Welten? Sie haben oft ein tiefes, teils intuitives Verständnis für komplexe Technik, das die Allgemeinbevölkerung nicht hat. Und gestehen nicht all jene, die sich an den IT-Kundigen ihres Vertrauens wenden, diesem eine gewisse Macht über ihre Geräte zu? Sie glauben fest daran, dass er diese Macht hat, dass er die Geräte auf einer Ebene versteht, die ihnen verschlossen bleibt.
Und genau wie bei dem, was ich oben als formlose Masse als “Schamanen” bezeichne, gibt es auch bei uns unterschiedliche Strömungen, Kenntnisbereiche und Spezialisierungen auf die jeweilige Kultur, nur dass sie statt ehtnischen Zugehörigkeiten in der IT-Welt “Windows”, “Linux” und “MacOS” heißen.
Sind wir Nerds jetzt alle Techno-Schamanen?
In einem Wort: Nein.
Genausowenig wie Menschen automatisch Christen sind, nur weil sie in einer christlich geprägten Umgebung aufwachsen, sind IT-affine Menschen nicht automatisch Techno-Schamanen, nur weil sie gerne mit Technik arbeiten und diese verstehen. Schamanismus ist zu einem guten Teil auch Selbstverständnis, niemand ist Schamane, der sich nicht mit dem jeweilgen kulturellen und spirituellem Kontext identifiziert und sich selbst als solcher sieht. Siehe auch die Gegenüberstellung zum Priester: Ein Schamane wird nicht von anderen als solcher ernannt.