Depressionen - wie ist das?
Immer wenn mich jemand fragt, wie sich Depressionen bei mir eigentlich äußern, komme ich ins Schwimmen. Es ist wirklich schwierig, das jemandem, der es selber noch nicht erlebt hat, zu erklären. Ein Problem ist bei mir vor allem, dass meine Gefühlswelt nur sehr schwer zu greifen ist, was zum einen ebenfalls schwer zu vermitteln ist, zum anderen wollen Menschen ja wissen, wie es sich “anfühlt”, depressiv zu sein - ein Henne-Ei-Problem. Ich versuche trotzdem einmal, es irgendwie in Worte zu fassen.
Primär bedeutet die Depression für mich, antriebslos zu sein. Zuerst waren es nur wiederkehrende Aufgaben, die mir schwer fielen. Ich zögerte sie hinaus, so lange es ging, dann kickte irgendwann das Adrenalin und ich erledigte alles auf den letzten Drücker. Doch mit der Zeit weitete sich dieses Unvermögen, die Energie für notwendige Aufgaben aufzubringen, auf mein ganzes Leben aus. Ich schaffte es streckenweise nicht einmal, morgens aufzustehen. Am ehesten kann man sich das wohl wie einen Kater vorstellen, nur ohne Kopfschmerzen und Übelkeit. Man hat (deutlich) zu viel getrunken und liegt den ganzen Tag im Bett, auch wenn man eigentlich die Wohnung aufräumen, den Abwasch machen oder Wäsche waschen wollte. Es ist nicht so, dass man eine große Wahl hätte - in den schlimmsten Phasen der Depression rettete mich nicht einmal mehr der Schock der herannahenden Deadline. Stattdessen machte ich mir wegen nicht erledigten Aufgaben und meiner vermeintlichen Faulheit bittere Selbstvorwürfe.
Womit ich zur vermutlich verbreitetsten Fehlannahme kommen möchte: Depressionen sind keine Faulheit! Ich bin zwar generell der Überzeugung, dass es nur sehr wenige wirklich faule Menschen gibt und die vermeintliche Faulheit tatsächlich eher ein Problem der Energie ist, die man für bestimmte Dinge aufbringen kann, aber im Kontext einer Depression gibt es definitiv keine Faulheit. Man kann es mit einem steilen Hang vergleichen, den man mit dem Rad nicht schafft. Egal, wie sehr man sich anstrengt, man kann maximal im niedrigsten Gang hochschleichen und ist ggf. einfach schneller, wenn man das Rad hochschiebt. Ist man also faul, wenn man herunterschaltet oder absteigt? Oder passt man sich nur den Gegebenheiten an und kämpft keinen sinnlosen Kampf? Mit Depressionen sind auch die leichtesten Aufgaben teilweise so ein Kampf. Am Ende des Tages ist man manchmal schon froh, dass man es geschafft hat, genug zu trinken und einen Happen zu essen. Manchmal klappt auch das nicht. Und auch, wenn persönliche Aufgaben kein Problem darstellen sollten, heißt das nicht, dass genug Antrieb für alle anderen Pflichtaufgaben da ist. Es ist ein ständiges Jonglieren und Balancieren mit den eigenen Kraftreserven.
Häufig werden Depressionen auch mit Traurigkeit gleichgesetzt. Und auch, wenn das möglicherweise bei manchen Erkrankten der Fall sein mag, kann ich das für mich nicht bestätigen. Für mich ist die Depression vielmehr die Abwesenheit von Gefühlen. Oder zumindest deren starke Dämpfung. Es ist, als wenn die Gefühlswelt in einem dichten Nebel verborgen ist und nur die stärksten Emotionen kommen ab und an durch und leuchten ein wenig. Wut zum Beispiel ist bei mir eine der wenigen Gefühlsregungen, die ab und zu noch eindeutig spürbar sind. Den Rest kann ich nicht greifen, er entzieht sich der Wahrnehmung. Und darum ist es für mich auch so schwer, zu beschreiben, wie sich die Depression anfühlt. Wie beschreibe ich ein Gefühl, ohne es zu spüren?
Wäre Hoffnungslosigkeit eine Emotion, würde es wohl auf die herauslaufen. Der Mensch ist auf seine Emotionen angewiesen, sie helfen uns, im Alltag Entscheidungen zu treffen und stellen ein Gleichgewicht in der Wahrnehmung her. Ohne sie fehlt ein Teil unserer Weltsicht. Depressionen vermitteln gleichzeitig das Gefühl, dieser Zustand des weniger Fühlens ändere sich nicht mehr. Hoffnungslosigkeit entsteht. Und viele verzweifeln daran.
Der Mythos von den Wunderpillen
Wenn Depressive es überhaupt schaffen, sich mit ihrer Erkrankung zum Arzt zu begeben, steht meist eine längere Diagnostik an. Das wirksamste Mittel gegen Depressionen ist eine Therapie, doch die Therapieplätze sind rar und oft mit monate- oder gar jahrelangen Wartezeiten versehen, bis ein Platz frei wird. Doch was macht man in der Zwischenzeit?
Viele Ärzte überweisen die Patienten erst einmal zum Psychiater. Immerhin gibt es ja so etwas wie Antidepressiva, die stimmungsaufhellend wirken sollen. Doch funktioniert das überhaupt zuverlässig und bei jedem? Und was ist mit den Nebenwirkungen?
Ich persönlich habe mit Antidepressiva verschiedenster Art bisher nur schlechte Erfahrungen gemacht. Bei leichten- und mittelstarken Depressionen helfen sie eher nicht über den Placebo-Effekt hinaus. Doch bei letzteren werden sie trotzdem gerne verschrieben. Spannenderweise gibt es viele kleine Einzelstudien, die deren Wirksamkeit belegen. Auf der anderen Seite gibt es großangelegte Studien, die genau das Gegenteil zeigen. Hier wird über mögliche Ursachen dieser Widersprüche berichtet. Daher gehe ich davon aus, dass die Einzelstudien eher den Placebo-Effekt belegen, denn eine gute Wirksamkeit bei leichten und mittleren Depressionen lässt sich bei Studien mit vielen Teilnehmern offenbar nicht belegen.
Bei schweren Depressionen sagt man den Mitteln eine gute Wirksamkeit nach. Ab wo genau die Grenze zu einer schweren Depression verläuft weiß ich nicht, offenbar hatte ich keine. Was ich aber definitiv bestätigen kann sind die krassen Nebenwirkungen, die bei mir auftraten. Nach wenigen Tagen setzten jedes mal verschiedenste Nebenwirkungen ein: Schwindel, Herzrasen, Bluthochdruck, Übelkeit, Kopfschmerzen, starker Tinnitus, Konzentrationsschwierigkeiten, Schweißausbrüche, Extrasystolen. Auch nach mehreren Wochen ließen die Probleme nicht nach, bei einigen Präparaten musste ich sogar nach wenigen Tagen abbrechen. Die starken Nebenwirkungen standen in keiner Relation zu der erwarteten Verbesserung. Und auch hier zeigt sich ein durchwachsenes Bild: Einige meiner Bekannten hatten nur wenige Nebenwirkungen, während viele von mittleren bis starken Nebenwirkungen berichteten. Bei einigen gaben sich diese nach einiger Zeit, bei anderen verlief es wie bei mir.
Das einzige, was die Antidepressiva bei mir nicht gebracht haben, war eine Verbesserung der Depression.
Was wirklich zu wirken scheint
Ich lebe jetzt seit über einem Jahrzehnt mit Depressionen, ungefähr die Hälfte davon undiagnostiziert. Und langsam kristallisiert sich für mich heraus, was mir dabei hilft, sie in den Griff zu bekommen:
- Therapie
Durch gezielte Gesprächstherapie können die Ursachen der Depressionen ans Licht gebracht und verarbeitet werden. Allerdings ist die Suche nach einem Therapieplatz mühsam und für Depressive oft kaum zu stemmen. Auch die richtige Therapieform zu finden ist gar nicht so einfach. - Akzeptanz
Wenn sowohl das Umfeld als auch man selbst die Depression als Krankheit akzeptiert und man sich nicht durch den akuten Leistungsabfall selber stresst und sich Vorwürfe macht, geht es bergauf. Bis dahin ist es jedoch ein steiniger Weg, denn wir müssen erst lernen, “ich habe derzeit keine Kraft” zu sagen - und es auch so zu meinen. - Zeit
Die Depression wird nicht von heute auf morgen verschwinden, egal wie sehr man sich anstrengt. Vermutlich dauert es Monate und Jahre, und je eher man sich deswegen keinen Kopf mehr macht, desto besser. Es ist kein einfacher Weg, aber er erfordert dafür auch nicht, einen Marathon zu laufen. - Gelassenheit
Du bist niemandem gegenüber zu etwas verpflichtet, nur Dir selbst. Wenn Du nicht arbeiten kannst, lass Dich krankschreiben. Wenn Du keine Freunde treffen kannst, erkläre ihnen was los ist und verschiebt das Treffen. Wenn Du es nicht schaffst, morgens zu duschen, dann lass es. Mache Dinge dann, wenn Du die Energie dazu hast und nicht vorher.
Und nein, ich habe keine Patentlösung, die für jeden funktionieren wird. Ich spreche aus eigener Erfahrung, die aber sehr individuell ist. Daher ist es auch nicht mein Anspruch, hier DIE Lösung anzubieten. Aber vielleicht helfen die paar Punkte, die ich für mich als heilsam herausgearbeitet habe, ja doch jemandem auf seinem oder ihrem Weg.