ADHS & Depressionen

Ich habe lange überlegt, ob ich dem Thema Depressionen einen eigenen Bereich widme oder es unter ADHS eingliedere. Würde ich alle Facetten beleuchten wollen, gäbe es sicherlich genügend Inhalte, um eine eigene Rubrik damit zu füllen. Vermutlich würde auch mein Psychologe widersprechen, wenn ich die Depressionen hart mit ADHS verknüpfe, doch mein Gefühl sagt mir, dass in meinem Fall eine Vermischung sinnvoll ist.

Was haben also Depressionen (in meinem Fall) mit ADHS zu tun? Wie schon in Der Weg zur Diagnose angeteasert ist es für mich durchaus wahrscheinlich, dass mein undiagnostiziertes und damit unbehandeltes ADHS einer der Auslöser für Burnout und Depressionen im Erwachsenenalter war. Mein Kopf steht quasi immer unter Hochspannung. Das, was ich mein ganzes Leben lang als normal wahrgenommen habe, findet bei den meisten Menschen so gar nicht statt, wie ich in den Monaten nach der Diagnose lernen musste. Ständig wechselnde Interessen, Fokusrichtungen, Aufmerksamkeit? Fehlende Filter und Überforderung mit zu viel Input, den neurotypische Menschen einfach automatisch wegsortieren? Menschen zu “lesen” ist ein willentlicher Kraftakt? Ein Großteil der Menschheit wird das nicht ansatzweise nachvollziehen können.

Ich rede seit der Diagnose mit vielen neurodiversen Menschen, die ich bisher nicht einmal als ebenfalls betroffen wahrgenommen hatte. Ich frage auch Freunde, Bekannte und Kollegen, die eher im normalen Spektrum einzuordnen sind, wie sie Dinge wahrnehmen und handhaben. Und es zeichnet sich ein recht deutliches Bild ab: Viele der Menschen, die starke Anzeichen von ADHS zeigen, haben auch ihre Erfahrungen mit Burnout und Depressionen gemacht. Der Anteil der Menschen, die damit eher nichts zu tun hatten ist unter uns Eichhörnchen gefühlt deutlich höher.

In Der Weg zur Diagnose berichtete ich über meinen auf ADHS spezialisierten Psychiater, der diesbezüglich eine ganz klare Meinung hat, nämlich dass ADHS-Patienten durch ihre Besonderheit von Kindheit an unter einer erhöhten Belastung leiden. Die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte Sache zu konzentrieren und diese Konzentration zu halten, ist bei diesen Menschen weniger stark ausgeprägt als bei Neurotypischen, wodurch sie alleine durch die auf “normale” Menschen ausgerichtete Gesellschaft unter psychischem Druck stehen. Das Verständnis der Gesellschaft für abweichende Verhaltensweisen oder für die Unfähigkeit, sich “normal” zu verhalten, ist sehr begrenzt vorhanden, um es vorsichtig auszudrücken. So kommt zusätzlich zu den erschwerten Bedingungen, die Eindrücke des Umfelds nicht effizient filtern zu können, auch noch zusätzlicher Druck durch die Menschen um einen herum dazu. Erwartungshaltungen, die man unbedingt erfüllen muss (und auch will), um irgendwie erfolgreich und konfliktarm durchs Leben zu kommen.

Für mich ist das eine wichtige Erkenntnis. Während meiner Ausbildung zum Fachinformatiker stolperte ich in meinen ersten Burnout. Die Ausbildung war keine große Herausforderung, die meisten der dort vermittelten Wissensbereiche beherrschte ich bereits mindestens grundlegend und musste nie viel lernen, um die teilweise komplexen Themengebiete zu verstehen. Das Problem hier war am ehesten, nicht vor Langeweile noch im Klassenzimmer zu sterben, um es salopp auszudrücken. Das eigentliche Problem war der Berufsalltag. Ich hatte schon relativ früh viele Aufgaben im IT-Betrieb meiner Ausbildungsfirma übernommen und versuchte mit den anderen Auszubildenden, die täglichen Anforderungen zu erfüllen und nebenbei noch die IT-Infrastruktur nicht nur am Laufen zu halten sondern auch weiterzuentwickeln. Diese war aus heutiger Sicht nicht überkomplex, allerdings hingen einige Anforderungen daran, in die man sich erst tief einarbeiten musste. Klingt cool, war es auch. Ich habe in dieser Zeit viel lernen dürfen, auch über meine eigenen Grenzen.

Was zum Problem wurde: Nicht klar kommunizierte Erwartungshaltungen, Routineaufgaben, Zwischenmenschliches.

Dass die Erwartungen meiner Vorgesetzten in einigen Fällen über das hinaus gingen, was bei mir vom Verständnis her ankam, wurde mir erst sehr viel später klar, als ich mit Freunden darüber redete. Denen war, als sie den Wortlaut einer Anforderung hörten, sofort klar, dass die Anforderung selbst oft nicht einmal das primäre Ziel definierte. Für mich selber stand der Wortlaut als solcher im Raum und ich führte ihn gewissenhaft aus, ohne zu realisieren, dass noch viel Ungesagtes drum herum ebenfalls umgesetzt werden sollte. Auch heute fällt es mir noch schwer, “zwischen den Zeilen” oder “über den Tellerrand hinaus” zu lesen. Die Erfahrungen im IT-Betrieb erlauben es mir zwar, in gewissem Rahmen zu extrapolieren, aber es kostet jede Menge Kraft.

Auch Routineaufgaben führten dazu, dass mich der Arbeitsalltag zunehmend belastete. Backup-Bänder wechseln, den globalen Spamfilter checken, alle Produktivsysteme auf korrekte Funktion checken, die Update-Meldungen der Hard- und Softwarehersteller auf kritische Sicherheitslücken prüfen, die sofort behoben werden müssen, Patchmanagement, etc… Alles sinnvolle und wichtige Aufgaben, aber: Routineaufgaben sind mein Erzfeind. Dinge, die sich immer wiederholen, die keine Abwechslung bieten, langweilen mich zu Tode und ich muss mich immer mehr zwingen, sie zu erledigen. Das Verständnis anderer Menschen dafür ist erwartungsgemäß gering und so stand ich zwischen den Stühlen: Entweder viel Energie darauf aufwenden, diese Aufgaben gewissenhaft zu erledigen oder mich dem Unmut meiner Vorgesetzten aussetzen, die vollkommen zu Recht auch auf die Erledigung dieser Aufgaben bestanden.

Zwischenmenschliche Probleme hatte ich schon immer. Dadurch, dass ich mich anders verhielt als der Rest der Kindergartenkinder, verbrachte ich ein zweites Jahr im Kindergarten - aufgrund sozialer Anpassungsprobleme. In der Schule war ich immer der Außenseiter, in den weiterführenden Schulen permanent Mobbing-Opfer. Erst mit Anfang 20 lernte ich Menschen kennen, die mich halbwegs so hinnahmen, wie ich war. Weird, sprunghaft, kreativ, aber irgendwie scheinbar auch interessant genug, um sich mit mir auseinander zu setzen. Doch das alles war Freizeit - im Beruf gab es genug Menschen, die mit meiner Art, Dinge anzugehen und mit Anderen zu reden, nicht umgehen konnten. Ich war zu diesem Zeitpunkt auf der anderen Seite auch nicht mehr bereit, meine Überzeugungen udn auch fachlichen Kompetenzen aufgrund solcher Befindlichkeiten dauernd kleinreden zu lassen und so krachte es zwischen einem meiner Vorgesetzten und mir teils gehörig; teilweise wurde es sogar ziemlich laut im Büro, was eigentlich gar nicht meine Art war. Aber die Nerven lagen zu diesem Zeitpunkt schon gehörig blank.

Dazu kamen der viel zu frühe Tod meines Vaters sowie eine sehr unschöne und emotional belastende Trennung von meiner damaligen Partnerin, die im selben Bürokomplex arbeitete wie ich. All das führte dazu, dass ich schließlich zum Arzt ging, weil ich nicht mehr arbeitsfähig war. Der diagnostizierte mir Burnout, schrieb mich für ein paar Wochen krank und legte mir nahe, Stress zu reduzieren und mir ggf. professionelle Hilfe zu suchen, wenn sich der Zustand nicht besserte.

Ich zog kurz darauf die Reißleine und kündigte, packte meine Siebensachen und zog zu einem guten Freund nach Berlin, der Stadt, die ich damals nicht ausstehen konnte. Aber ich konnte so zwei meiner drei großen Stresspunkte zurücklassen und erholte mich vorerst. Zwar stresste mich auch mein erster Berliner Job gehörig, doch ein paar Jahre hielt ich es aus, bis ich bei meinem jetzigen Arbeitgeber anheuerte.

Hier sprang ich erst einmal in eiskaltes Wasser. IT-Security, Pentesting… Ich wusste, worum es ungefähr ging, hatte ich doch schon als Jugendlicher das Internet auch auf kreative Weise genutzt und herausgefunden, wie man auch fremde Rechner und Server für sich nutzen kann. Ohne ins Detail zu gehen, ich war vielleicht ein besseres Scriptkiddie. Doch mein neuer Arbeitgeber hatte Vertrauen in mich und ich schätze, allzu blöd habe ich mich auch nicht angestellt. Doch nach einigen Jahren traten einige Ausfallerscheinungen bei mir auf, die ich nur allzu gut kannte. Prokrastination, Zeitmanagement-Probleme, Berichtsfaulheit (es fiel mir immer schwerer, Berichte zu schreiben oder später gar anzufangen). Eine ganze Weile kämpfte ich alleine dagegen an, weil ich Angst hatte, dass meine Vorgesetzten wie bisher bei allen anderen Arbeitgebern wenig Verständnis für solche Befindlichkeiten haben würden. Doch irgendwann konnte ich die Menge an Auffälligkeiten nicht mehr verbergen und wir führten viele Gespräche, in denen viel Verständnis und noch viel mehr Lösungsmöglichkeiten aufkamen.

Leider war es zu diesem Zeitpunkt bereits zu spät. Eigenständig konnte ich keine Kundentermine verabreden, keine Angebote schreiben, nicht selbstständig Arbeiten beim Kunden angehen. Mit anderen Kollegen, die mir Arbeitsaufgaben zuteilten, ging es noch eine Weile, doch hinterher die Ergebnisse aufzuschreiben fiel mir immer schwerer bis ich komplett blockiert war. Die Angst um den Arbeitsplatz und damit Sicherheit im eigenen Leben lähmte mich zusätzlich. So verschlechterte sich mein Zustand bis zu dem Punkt, an dem ich morgens nicht einmal mehr aus dem Bett kam. Die Angst, die bei meinem Arbeitgeber nicht berechtigt war, denn hier wurde vorbildlich reagiert und alles versucht, um mich wieder auf die Beine zu bekommen, stellte sich leider im privaten Bereich als nicht herbeiphantasiert heraus. Meine Wohngemeinschaft störte sich dermaßen an meinem Rückzug aus dem Alltagsleben, dass sie mir nahelegten, mir eine neue Wohnung zu suchen; sie seien mit mir überfordert. Leider (und die Folgen tun mir wirklich leid) war die gesamte WG an meinen Mietvertrag gebunden und so verloren auch meine Mitbewohner ungewollt ihre Bleibe, als ich schließlich auszog.

Kurz vor der Auflösung der WG hatte ich meine erste Erfahrung mit Tageskliniken und Therapie gemacht. Ich ließ mich für sechs Wochen in eine Tagesklinik in der Nähe einweisen, wo ich lernte, mit mir und meiner Umwelt achtsamer umzugehen. Am Ende der Zeit dort spiegelte eine der Mitarbeiterinnen mir, dass sie nicht verstehe, wieso ich eigentlich dort war - die meiste Zeit sei ich fröhlich, ausgelassen und in positiver Grundstimmung gewesen, habe Workshops für meine Gruppenmitglieder angeboten und überhaupt keinen depressiven Eindruck gemacht. Heute ahne ich, dass der Wechsel in eine neue Umgebung, neue Aufgaben und die Freiheit, meine Zeit dort in Teilen so zu gestalten, wie ich es brauchte, der ausschlaggebende Punkt waren. Raus aus der bisherigen Routine. Weg von Erwartungshaltungen. Leute, die Verständnis hatten. Und klare Erwartungshaltungen seitens der Betreuer.

Doch die Depressionen waren nicht vorbei, zogen sich noch jahrelang weiter hin und es wurde klar, dass auch der Tod meines Vaters, den ich nicht wirklich verarbeitet hatte und der viele offene Wunden zurückließ, ein weiterer großer Faktor war. Diese Thematik sowie meine Anpassungen an meine Umgebung, die mir überhaupt ein halbwegs “normales” Leben ermöglichen, aber ansich an die Substanz gehen, sind nun Grundlage für meinen nach langer Zeit ergatterte Therapieplatz. ADHS wird hier größtenteils als Faktor ausgeklammert, da mein Psychotherapeut nicht an einen grundlegenden Einfluss diesbezüglich glaubt. Doch für mich ist dieser jeden Tag besser sichtbar. ADHS ist Auslöser für viele Kompensations-Verhaltensweisen, die sich negativ auf meine Psyche auswirken. ADHS bedeutet permanente Belastung, da das Filtern meiner Umgebung und die Konzentration auf bestimmte Dinge jede Menge Energie kosten. Und ADHS ist die Ursache für viele meiner sozialen Ängste, die sich ebenfalls auf meine Psyche auswirken.