Afantasie

Afantasie, was ist das nun wieder?

“Stell Dir einen roten Apfel vor”. So ähnlich begann auf dem 38C3 ein Vortrag über Afantasie, der leider nicht aufgezeichnet werden sollte. Und so einfach die Aufgabe für die meisten Menschen lösbar gewesen sein mochte, sie stellte einen Teil des Publikums vor ein nahezu unlösbares Problem. Denn Bilder im Kopf haben - das ist doch nur so ein Sprichwort, oder?

Afantasie, der Name ansich ist schon irreführend. Bereits 1880 beschrieb ein Britischer Naturforscher, Francis Galton, das Phänomen, dass sich einige Menschen offenbar nicht in der Lage sind, sich bereits Erlebtes noch einmal bildlich vorzustellen. Mit fehlender Phantasie hat das Ganze jedoch nichts zu tun, denn auch die kreativsten Köpfe können diese Kondition ausweisen.

Wirklich viele Studien zu Afantasie gibt es bisher nicht. Erst seit wenigen Jahren wird das Phänomen ernsthaft untersucht, man geht derzeit davon aus, dass unter 5% der Bevölkerung eine vollständige oder zumindest sehr starke Aphantasie aufweist, was auf jeden Fall eine signifikante und für mich unerwartet große Menge an Betroffenen ist.

Ich selbst habe erst irgendwann 2023 realisiert, dass ich möglicherweise betroffen sein könnte. Ich stand vor einem ähnlichen wie dem anfangs angesprochenen Problem: Ich wollte etwas zeichnen, das ich erlebt hatte und das ich gerne visuell weiterverarbeiten wollte. Doch so sehr ich mich auch zu erinnern versuchte, konnte ich das Bild, das zu der Erinnerung gehörte, nicht heraufbeschwören. Eine weitere Situation war Mitte bis Ende 2024, als ich mich auf eine schamanische Reise machen wollte und ich aufgefordert wurde, mir einen Baum, sein Wurzelwerk und eine Höhle vorzustellen. Ich scheiterte grandios an meinem fehlenden Vorstellungsvermögen. Rückblickend war das schon in der Schule im Kunstunterricht ein Problem, denn ich habe nur Dinge zeichnen können, die direkt sichtbar waren, oder geometrische Formen, aber nichts, wo mir nur ein “inneres Bild” als Referenz zur Verfügung stand. Aber warum war mir das nie bewusst geworden bis zu jenem Zeitpunkt in 2023?

Ich begann, mich selber zu hinterfragen. Wie konnte ich in einer Welt leben, in der offenbar jeder außer mir Bilder im Kopf hatte, ohne das zu bemerken? Die Antwort war recht schnell gefunden: Ich ging wir schon im ersten Absatz erwähnt davon aus, dass es sich nur um ein geflügeltes Wort handelte. Dass Menschen wirklich Bilder sehen, wenn sie sich etwas vorstellen, war für mich nicht wirklich denkbar, fern meines eigenen Erlebens. Und mangels Gegenerfahrungen habe ich das auch nie hinterfragt. Oder wann bist Du, lieber Leser, das letzte Mal auf jemanden zugegangen und hast gefragt, ob diese Person sich Bilder wirklich vorstellen kann?

Der Grund, wieso ich erst heute, nach besagtem Vortrag auf dem Chaos COmmunication Congress, sicher bin, dass ich tatsächlich die Kondition “Aphantasie” habe: Ich träume in Bildern. Und während ich im Wachbewusstsein keinerlei Bilder, oder allerhöchstens als bereits nach Sekundenbruchteilen wieder verschwundenes Blitzlicht, visualisieren kann, träume ich in allen Farben, Formen und Ausprägungen der bildlichen Darstellung. Spannenderweise kann ich mir manchmal Geträumtes sogar in gewissem Umfang auch visuell ins Gedächtnis rufen, allerdings nur sehr schwammig und schnell verblassend. Jedenfalls dachte ich, dass ich ja keine Afantasie haben kann, wenn ich in Bildern träumen kann. Doch genau da lag ich falsch, wie ich jetzt erfuhr: Die meisten Menschen mit Afantasie träumen durchaus in Bildern, können das aber nicht im Wachzustand.

Leben mit Afantasie, Erklärungsversuche

Aber wie erkennt jemand mit Afantasie nun Gegenstände, wie erinnern wir uns an Dinge, wie können wir beispielsweise einen Apfel beschreiben, ohne ihn zu sehen?

Ich nenne meine persönliche Herangehensweise “parametrisiert”. Ich denke in Konzepten, wo andere Bilder sehen. Soll ich einen Apfel beschreiben, sehe ich keinen Apfel, auch kein Drahtgittermodell davon oder Ähnliches. Aber ich weiß, was einen Apfel ausmacht:

Ein Apfel ist meist rund. Er hat an beiden “Polen” eine Einbuchtung. Am südlichen Teil sprießt ein kleines dunkelbraunes Gebüsch, die ehemalige Blüte. Am nörlichen Ende sprießt ein dunkelbrauner Stiel hervor, der den Apfel am Baum hielt, bevor er geerntet wurde. Die Farbe ist je nach Art und Reifegrad hellgrün bis dunkelrot, manchmal auch gelb. Ein Apfel ist ungefähr so groß, dass er gut in eine geöffnete Hand passt.

Offenbar kristallisiert sich derzeit heraus, dass Menschen mit Afantasie häufig in technischen bzw. IT-Berufen arbeiten. Vielleicht begünstigt das parametrische Denken das Erfassen von logischen Strukturen, denen moderne Technik folgt. Das wäre zumindest meine Vermutung. Und offenbar sind viele betroffene Menschen auch überdurchschnittlich gut im räumlichen Denken. Ich erinnere mich an Aufgaben in verschiedenen Intelligenztests (oder dem, was als solcher verkauft wurde), in denen man aufgefaltete Würfel gezeigt bekommen hat und ausgehend von einer bestimmten Fläche sagen sollte, was sich auf der gegenüberliegenden Fläche befindet. Im Gespräch mit anderen Menschen fand ich heraus, dass viele sich tatsächlich den Würfel im Kopf “zusammenbauen” und ihn dann drehen, um die andere Seite anzuschauen. Ich hingegen zähle Flächen ab und ermittle so, welche auf der anderen Seite stehen muss. Oder nehmen wir die Navigation in einer mir unbekannten Umgebung: In der Regel weiß ich intuitiv, in welche (Himmels-)Richtung ich gerade gehe, in welcher Richtung mein Ziel liegt und wie ich dort von der aktuellen Position aus hinkomme - auch, wenn ich Hindernisse wie Flüsse oder nicht zugängliche Gebiete zwischen mir und dem Ziel habe. Wenn ich mir vorher eine Karte anschaue, präge ich mir auch nicht den Weg als visuellen Pfad ein, sondern sich suche nach Navigationspunkten, die ich mir merke. So etwas wie “geradeaus gehen bis zur ersten breiten Kreuzung, dann links, dann drei Straßen weiter und wieder links, dann diagonal durch den Park und dann Richtung Norden, die nächste Straße rechts und dann Hausnummer 16.” Manchmal präge ich mir auch Straßennamen ein, aber das ist komplizierter für mich als Straßen abzuzählen.

Möglicherweise haben Menschen mit Afantasie auch noch einen ganz realen Vorteil: Stellt euch vor, ihr habt einen schweren Verkehrsunfall miterlebt, mit all den traumatisierenden visuellen Eindrücken, die dieser hinterlässt. Als Mensch ohne visuelles Vorstellungsvermögen kann ich bestätigen, dass derartige Ereignisse nicht permanent durch aufploppende Bilder retraumatisieren. Es bleibt bei einer schlimmen Erinnerung, aber das ständige Triggern bei Erinnerungen an das Ereignis bleibt aus. Wenn ich Bilder oder Videos derselben Situation sehe, geht es mir im Vergleich ziemlich schlecht und ich möchte mir gar nicht vorstellen, was es mit einem Menschen macht, der permanent durch innere Bilder mit so etwas konfrontiert wird.