Reading the Room
Ich träume schon seit meiner Jugend davon, einmal nach Japan zu fliegen und dort Land, Kultur und Leute kennenzulernen. Seit kurzem gehe ich diesen Wunsch aktiv an, versuche, mein Japanisch auf ein Level zu bringen, mit dem ich wenigstens grundlegend kommunizieren kann und beschäftige mich wieder mit allem, was man als Besucher dieses Landes beachten sollte.
In einem YouTube-Video bin ich über die Aussage einer Japanerin gestolpert, die berichtete, dass ausländische Besucher in der Bahn oft laut seien und sie wundere sich, ob diese Menschen nicht die Fähigkeit hätten, “den Raum zu lesen”. Im ersten Moment war ich etwas erstaunt darüber, dass sie das erwähnte, denn für mich wäre es ganz selbstverständlich, mich dem Umfeld angemessen zu verhalten. Dass die Menschen in japanischen Zügen eher still sind und sich nicht laut unterhalten oder gar laut Musik hören war mir schon bekannt.
Den Raum lesen können
Der zweite Gedanke war dann aber auch, dass ich tatsächlich sehr oft mitbekomme, dass einige meiner Mitmenschen sich nicht sonderlich dafür interessieren, was in ihrer jeweiligen Umgebung angemessen ist. Es geht gar nicht so sehr um festgeschriebene Regeln, sondern um die ungeschriebenen Erwartungshaltungen. Wobei auch die geschriebenen Regeln hierzulande sehr häufig und mit einer (für mich) erschreckenden Selbstverständlichkeit ignoriert werden (man denke nur an Essen und Trinken in Bahnen, Rauchen in Nichtraucherzonen, Rasen in geschwindigkeitsregulierten Zonen, …), aber irgendwie beschäftigt mich das unbewusste Übertreten von gesellschaftlichen Regeln gerade viel mehr.
Bleiben wir der Einfachheit halber mal beim bildlichen Beispiel eines Raumes. Wenn ich in einen Raum komme, egal welcher Art, in dem sich Menschen befinden, versuche ich als erstes, die ungeschriebenen Regeln herauszufinden. Wie verhalten sich die Leute hier? Wie kommunizieren sie miteinander, wie reagieren sie auf bestimmte Dinge, gibt es erkennbare gemeinsame Verhaltensweisen? Reagieren sie auf mich, und wenn ja, wie? Das passiert bei mir ganz automatisch, und bis ich nicht mindestens die grundlegenden Regeln begriffen habe, werde ich mich nicht in irgendeiner Art auffällig verhalten. Im besten Fall bin ich nicht alleine unterwegs und meine Begleitung kennt diese Regeln bereits, dann wurde ich schon im Vorfeld vorbereitet. Und wenn nicht, würde ich es vorziehen, erst einmal alleine oder mit der jeweiligen Begleitung eine Weile “anzukommen”, zu beobachten und dann erst Teil des Raumes zu werden.
Was ich aber vielfach bei anderen beobachte, ist folgendes: Sie bringen ihren eigenen Raum mit. Zuletzt fiel mir das bei einer Filmveranstaltung auf, wo die meisten Leute auf ihren Stühlen saßen und den Film anschauten, während ein kleiner Prozentsatz der Gäste sich im Hintergrund an der Bar versammelt hatte und lautstark ihr eigenes Programm fuhr. Dass sie die anderen, die wegen des Films gekommen waren, damit störten - es schien ihnen nicht einmal aufzufallen.
Ich frage mich aktuell, woran es liegt, dass manche Menschen offensichtlich “blind” für diese stillschweigenden Arrangements sind. Ich kann mich nicht in jemanden hineinversetzen, der seine eigenen Regeln mitbringt und sie als relevanter einschätzt, als die Regeln der Umgebung. Das gilt natürlich genauso für die Leute, die geschriebene Regeln ignorieren, auch dafür habe ich wenig Verständnis. Aber ich vermute, dass die Leute, von denen ich rede, die ungeschriebenen Regeln, die Regeln des Raumes, nicht lesen können. Und ich bin mir unsicher, warum sie es nicht können, ob das eine Erziehungsfrage ist oder ob ihnen wirklich die Fähigkeit dazu fehlt.